Der Wolf

Texte (c) 1999, Cornelia Savory-Deermann, illustriert von Maggie M. Roe


Der Wolf ist wie der Mensch ein soziales Wesen, er braucht die Gemeinschaft zum Überleben. Und er ist der Jäger par exellence! Diese Eigenschaften erhöhten ihn für die frühen Menschen zu ihrem Ahnen und zum dunklen Inbegriff von Tod und Wiedergeburt.

In dem Maße, wie der Mensch seßhaft wurde und Ackerbau betrieb, wandelte sich sein Verhältnis zum Wolf: aus dem Göttlichen Jagdlehrer wurde der gefährliche Menschenjäger. Im 19. Jahrhundert war er in Mitteleuropa endgültig ausgerottet.

Der Wolf ist das einzige Säugetier, daß der Mensch "singen" hören kann. Wenn der Wolf den Vollmond anheult, dann fühlt der Mensch sich von der Kraft der Imagination, dem Animalischen und Unfaßbaren berührt.

Eltern-Wolf

Die Häufigkeit des Familiennamens Wolf und seiner Ableitungen, sowie die Beliebtheit von Vornamen, die die Silbe wolf/wulf in sich tragen, zeigt deutlich den hohen Stellenwert des Wolfs als Totemtier vieler Clans im heidnischen Europa.

Bedeutende Helden werden der Sage nach von Wolfsmüttern genährt. Die bekanntesten Beispiele dafür sind der persische Religionsstifter Zarathustra, die Gründer Roms Romulus und Remus sowie Siegfried, der einer alten Sagenfassung nach Wolfdietrich hieß. Eine Wölfin hat auch die Stammväter der Türken und der Mongolen gesäugt, wie alte Mythen erzählen. Die Südslawen zogen ein neugeborenes Kind durch ein Wolfsfell und sagten dann, es sei von einer Wölfin geboren worden. Irische Stämme glaubten, daß ein Wolf ihr spiritueller Vater sei. Das Motiv ist bis in unsere Tage erhalten geblieben: Rudyard Kiplings Mogli wächst im „Dschungelbuch" in einem Wolfsrudel auf, als Sohn und Bruder liebevoll beschützt.

Die frühen Menschen erlebten sich als dem Wolf tief verwandt. Er lebt und jagt in einem Rudel, in einer Gruppe und ist somit in seinem Überleben genauso wie sie selbst auf soziale Regeln und Ränge angewiesen. Er wurde von ihnen, ähnlich wie der Bär, als ihr Ahne verehrt.

Initiation

In ihrem Buch „Märchen lösen Lebenskrisen" schält Marcella Schäfer an Hand von verschieden alten Fassungen des Märchens „Rotkäppchen und der böse Wolf" den in diesem Zusammenhang besonders interessanten Aspekt des Wolfes als Totemtier bei Initiationsriten heraus. Bei den alten Jägervölkern wurde der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen in einem dramatischen und aus unserer Sicht meist auch grausamen Einweihungsritual vollzogen. Der Junge „starb", um als neuer Mensch, als vollwertiges Stammesmitglied „wiedergeboren" zu werden. Das Totemtier spielte dabei die wichtigste Rolle, da es die Ahnen verkörperte. Es gab die Eigenschaften und die besonderen Jagdkräfte, die der Stamm zum Überleben brauchte, durch diese Riten an den Jungen weiter. Es war der Identifikationskern und der Traditionsgeber des Clans und stellte einen dämonischen Tiergott dar.

Ein Wolfsrudel ist die erfolgreichste Jagdgemeinschaft, die die Natur kennt. Die Verbreitung des Wolfs als Totemtier der alten Jägervölker liegt daher auf der Hand. Diese Initiationsriten wurden abseits des Dorflebens, im Wald vollzogen. Das Verlassen der Kindheit, das „Sterben" als Kind, wurde durch das rituelle Verschlungenwerden von einem Wolf vollzogen. Im Wolfsbauch konnte der Junge, wie in einer zweiten Schwangerschaft, die Qualitäten eines vollwertigen Mitgliedes der Stammesgemeinschaft erlangen und „wiedergeboren", aus dem Wolfsbauch herausgeholt werden. Bei diesen Riten spielte der Schamane oder die Schamanin des Stammes den Wolf. Er oder sie trug eine Wolfsmaske und ein Wolfsfell. („Großmutter, was hast du für lange Zähne!"...)

Barbara G.Walker betont, daß in „Rotkäppchen und der böse Wolf" noch die ursprüngliche, matristische Ordnung vorherrscht: Drei Frauengenerationen, Großmutter, Mutter und Tochter bestimmen das Geschehen. Diese drei Frauen stehen in jedem alten Märchen für die dreifache Göttin. Die rote Haube galt in England als Kennzeichen einer Priesterin. Sie symbolisierte das Blut, das bei Opfern und Verschlingungsritualen gewöhnlich floß. Das ursprüngliche Initiationsopfer war der noch sehr jugendliche Jäger. Er sollte als vollwertiger „wölfischer" Jäger wiedergeboren werden. Noch heute sagt man in der Jägersprache über einen Jäger aus Leidenschaft: Er ist angewölft! Erst in späteren Zeiten wird dieses Geschehen im Märchen patriarchal umgedeutet und das Mädchen zum Opfer des Jäger-Wolfes.

Werwolf

Das Wort „Wer" (lat.vir, virtus) bedeutet tugendhafter, starker, wehrhafter Mann. Der Werwolf ist also ein Wolf, der eigentlich ein Mann ist.

Vergil berichtet, der erste Werwolf sei Moeris, der Gatte der dreifachen Schicksalsgöttin Moire gewesen.

Im klassischen Athen gab es einen Tempel, der dem „Apollo Lycaeus", dem „Wölfischen Apollo", geweiht war. Der Beiname „wölfisch" für Apollo zeigt sehr schön den hohen Stellenwert, den der Wolf einmal gehabt haben muß. In den Vorhallen dieses Tempels lehrte Sokrates. Der Begriff „Lyceum" für Höhere Schule leitet sich davon ab. Wölfische Initiationriten gab es damals in Griechenland schon lange nicht mehr, aber das Lernen birgt mit diesem Tempelnamen, der zum Schulnamen wurde, bis heute die Erinnerung an den Wolf als „Lehrer" in sich.

Der Wolfskult hielt sich lange in Europa. Seit Alters her fanden seine Zeremonien bei Vollmond statt. In italienischen Bergdörfern heißt es noch heute: „Wenn ein Mann an einem Freitag bei Vollmond im Freien schläft, wird ihn entweder ein Werwolf angreifen oder er wird selbst ein Werwolf werden." Der Freitag war der Göttin heilig, ebenso der Vollmond, den der Wolf so gerne ansingt. Dies ist wieder ein Hinweis auf den Ursprung des Wolfskultes in matristischer Frühzeit.

Die Schamanen und Druiden praktizierten - im Verborgenen - seine Rituale bis ins Mittelalter hinein. Sie trugen Wolfsmasken und Wolfsfelle; sie tanzten und töteten Opfertiere bei schamanischen Heilungen und anderen Anlässen. Durch diese rituellen Verkleidungen wurden sie Vorbild der heutigen Vorstellung vom Aussehen der Werwölfe.

Die Bezeichnung Geistwolf und Werwolf wurde seit dem 10. Jahrhundert ganz allgemein für die Gegner des Christentums verwandt. Die Inquisition der mittelalterlichen Kirche verfolgte und folterte vermeintliche Werwölfe gleichermaßen wie vermeintliche Hexen. Das ist nicht erstaunlich, denn beide waren - von der Kirche ins Böse verdrehte - letzte Spuren der Religion der Großen Mutter. Der Werwolf wurde erst im frühen Mittelalter zum Symbol des zerstörerischen Außenseiters, des perversen Menschenmonsters. Bis heute lebt er so in Gruselromanen und in Hollywoodproduktionen weiter.

Fressen

Der Wolf kann tagelang unbeschadet hungern, wenn er keine Jagdbeute oder kein Aas findet. Andererseits kann er aber auch unmäßig viel auf einmal fressen, auf Vorrat sozusagen, wenn er Beute gerissen hat. Diese Eigenheit hat ihm den Ruf maßloser Gefräßigkeit eingebracht.

Als der große Fresser und Verschlinger wurde der Wolf zum Symboltier menschlicher Gier und Habsucht. „Homo homini lupus." (Der Mensch ist des Menschen Wolf.) Dieser berühmte Satz des Römers Plautus gibt dem Ausdruck.

Die Wölfe Odins, die ihn auf die Kampffelder begleiteten, wurden „Geri", Gier, und „Freki", Fressen genannt. Sie waren Odins Jagdhunde und fraßen die Toten.

In vielen Märchen tritt der Wolf als das „Fresstier" schlechthin auf. Sein großer, geöffneter Schlund wurde Sinnbild all der unbegreiflichen Gefahren, die einen Menschen "verschlingen" können, bis hin zu Dunkelheit, Tod und Teufel. Die alten Germanen sagten von Sonnen- und Mondfinsternissen, die sie als furchterregende Vorzeichen verstanden, Sonne und Mond seinen von den Wölfen verschlungen worden, wie es auch beim Weltuntergang geschehen würde. Die Götterdämmerung, das Weltende wird in der Edda davon eingeleitet, daß Fenris, das gefesselte Wolfsuntier und Sohn des Feuergottes Loki (Lohe, leuchten, Licht), sich losreißt und Odin tötet. Jakob Grimm sieht hier Paralellen zu dem Feuer- und Kulturbringer Prometheus: Als Sohn Loki´s sei der Wolf Fenris Loki selbst in wiedergeborener Gestalt, und er sei ebenso an einen Fels gefesselt wie Prometheus es war, der alsdann Zeus töten sollte. Die Entfesselung leitet in beiden Fällen ein neues Zeitalter ein, sie bedeutet tatsächlich wörtlich eine Götterdämmerung.

Bei den Germanen war der Wolf der göttliche Schamane, der das Feuer, das Licht verschlingt, damit die Welt neu geboren werden kann. Genau so wie er bei den Initiationriten der Verschlinger war, durch den jeder Junge als neuer Mensch, nämlich als Erwachsener, wiedergeboren werden konnte.

Der Wolf war Sinnbild der Geheimnisses von Leben und Tod. Wir erkennen in ihm den dunklen Aspekt der Großen Göttin wieder.

Der Wolf und der Mond

Die achtzehnte Tarot-Karte (Waite-Rider) zeigt den Mond. Der Pfad zu ihm führt zwischen zwei Türmen hindurch, die beide von einem Wolf bewacht werden.

Wollen wir uns den inneren Bereichen nähern, die der Mond symbolisiert, so müssen wir uns zunächst diese Wölfe in unserer eigenen Seele zum Freund machen.

Der Wolf repräsentiert unser animalisches Selbst. Werden wir von unserem Über-Ich, wie Freud es nennt, beherrscht, gelten für uns die Spielregeln der Gesellschaft als Maß aller Dinge, dann lebt der Wolf in uns als gefährlicher Gefangener, der uns eines Tages verschlingen könnte. Wagen wir es aber unserem animalischen Selbst zu vertrauen, so können wir die Welt des Mondes betreten. Es ist das Reich der Imagination, der Phantasie, des Zwielichtes, des Unfaßbaren.

Die Knochenfrau

Ein indianisches Märchen:

Eine alte Frau lebt irgendwo und nirgendwo in der Wüste. Sie sucht dort nach verbleichten Knochen. Alle, die sie findet, legt sie zusammen, Tier für Tier, wie sie zusammengehören. Ganz besonders gerne

sucht sie nach Wolfsknochen. Wölfe sind ihre liebsten Geschöpfe. Wenn sie ein Skelett säuberlich und sorgsam zusammengelegt hat, steht sie auf und beginnt über den Knochen zu singen. Sie singt und singt, sie singt das Fleisch, sie singt das Fell, sie singt den Atem herbei. Der Wolf öffnet seine Augen und springt auf. Er läuft dem Horizont entgegen, wie es seine Natur ist. Und am Horizont verwandelt er sich in eine Frau.

Knochen galten immer und in allen Kulturen als die Bewahrer des unzerstörbaren Seins eines Lebewesens. Die Jäger der Steinzeit warfen nie achtlos die Knochen weg, sie sammelten sie nach der Mahlzeit ein und gaben ihnen einen Ehrenplatz. Nur die Bewahrung der Knochen - als Lebensessenz des erlegten Tieres - gab ihnen die Gewissheit, daß es wiedergeboren werden würde und somit der Kreislauf von Leben und Tod nicht verletzt war. Besonders dem Schädel wohnte nach ihrem Glauben die Kraft der Wiedergeburt inne. Die heutige Sitte, Jagdtrophäen mit einem Rest des Schädels stolz an die Wand zu hängen, hat in diesem Glauben an seine Wiedergeburtsmagie ihren Ursprung.

Die alte Frau des Märchen ist die Dunkle Göttin des Neumondes, die Mutter des Todes und der Wiedergeburt. Sie ist „Anima", der Archetyp des Lebendigen. Ihre Lebenskraft in diesem Märchen legt sie ins Singen. Und ihr Lieblingstier ist der Wolf. Es ist das Tier, das den Mond ansingt, und das sie damit selbst ansingt. Der Wolf ist ihr heiliges Tier, er ist eine Verkörperung ihrer selbst. Sie belebt ihn, sie belebt sich selbst in ihm! Singen ist Freude, Singen schafft Raum bis an den Horizont - und darüber hinaus.

Eine Medizinfrau lehrt:

Die Alte Frau lebt in jedem von Euch. Wenn Ihr das Gefühl habt, am Ende zu sein, dann legt ihr die Knochen Eurer Vergangenheit vor. Ihr habt die Freiheit dies zu verweigern, Euch selbst von Euren Knochen abzuwenden und in Eurer Starre zu verharren.

Aber wendet Ihr Euch der Alten Frau zu, dann wird sie Euch aus Eurer Vergangenheit heraus durch ihren Lebensgesang erwecken, und Eure wölfische Seele wird Euch zu einem neuen Horizont führen. Die Alte Frau kann gar nicht anders als lebendiges Fühlen schaffen, weil sie in jedem von Euch ist, und weil sie das Leben selbst ist.

Bildbeschreibung : "Lied der Dämmerung" "Half-Light Chant"

Sonnenuntergang, der Horizont liegt wie ein rosenfarbener Gürtel um die Erde geschmiegt. Die Wölfe werfen große Schatten, es muß Vollmond sein. Die Wölfe singen, sie singen zum Mond. Sie verabschieden den Tag, sie begrüßen die Nacht. Sie singen im Gleichklang. Ihre Aufmerksamkeit gilt nur ihrem Singen, es erfüllt sie ganz. Diese Wölfe sind Grenzgänger. Sie stehen am Ufer eines gefrorenen Wassers, gesäumt von Bäumen. Im Eis spiegelt sich ihre Seele.

Ein Halbkreis, die Erde unterm Himmelsgewölbe, beschreibt ihre innere Welt. Zwei Wölfe sitzen wie zwei Wächter in der Nacht dieses Gewölbes. Das Gebiß des Wolfskopfes in der Mitte ist fest geschlossen; kein Hunger, keine Jagd. Die Augen sind offen, ungerichtet. Seine Ohren lauschen ganz konzentriert nach oben. Aus seinem Scheitel wachsen Fühler: Antennen des Sinns, Antennen der Sehnsucht.


Index/Home Impressum Sitemap Search new/neu